Lilly Steinschneider Codenhove-Kalergi 1924
¾ Portrait in stehender Stellung, in leichter Schrägansicht, die Hände vor dem Schoß ineinandergreifend, das Haupt und den Blick dem Betrachter zugewandt. Die Dargestellte trägt ein langes weißes ärmelloses Kleid und darüber einen hellblauen Chiffon; um den Hals eine zweireihige Perlenkette, an ihrem rechten Handgelenk einen goldenen Armreif mit einem schwarzen ovalen Stein und an ihrer linken Hand einen dazu passenden Ring. Bildhintergrund: reiches Saloninterieur mit einer mit Wappen verzierten Kaminumfassung, einem Lehnstuhl, sowie zwei Wandbildern, von denen eines einen Mann im Renaissancekostüm mit einem Windhund darstellt.
JQAW# P_1924_110
Öl auf Leinwand 140 x 108 cm
Signatur: John Quincy Ɑdams 1924
Schloss Horšovský Týn (CZ) Inv.Nr. HT04915a
Ilka „Lilly/Lily“ (Ilona Mária Magdolna) Steinschneider, verh. Gräfin Coudenhove-Kalergi von Ronspergheim, 13.1.1891 Budapest bis 28.3.1975 oder 1977? Nizza/Genf?, rassisch verfolgte ungarische Flugpionierin.
Lilly wurde 1891 in Budapest in eine jüdische Fabrikantenfamilie geboren. Ihre Eltern waren Simon Bernát Steinschneider (1857 - 1923) und Irma St., geb. Wohl (1869 - 1935). Sie hatte drei Geschwister (2 Brüder und eine Schwester). Früh machte sich ihr unabhängiger Geist und Interesse für Technik bemerkbar. Als 20-Jährige legte sie 1911 in Budapest die Automobil-Führerscheinprüfung ab und begann in Wiener Neustadt die Pilotenausbildung (angeblich ohne Wissen und Einverständnis ihrer Eltern). Ihren ersten Soloflug absolvierte sie am 14.12.1911 in einer Etrich Taube (s. den Katalogeintrag zu Luise Eisner, die in 1. Ehe (1908-1913) mit dem Flugzeugkonstrukteur Ignaz Igo Etrich (1879-1967) verheiratet war) und absolvierte ihre Pilotenprüfung Mitte August 1912, was sie zur ersten Fliegerin in Ungarn machte (Pilotenlizenz vom ungarischen Aero-Club Nr. 4). (Die erste Frau weltweit mit einem Pilotenschein datiert 8.3.1910 war die Französin Élise Léontine Deroche, Baronin Raymonde de Laroche [1882-1919], die früh ein Opfer ihrer Flugleidenschaft wurde. Die erste Pilotin der k.u.k. Monarchie war die Tschechin Božena Láglerová, 1886-1941 [Pilotenschein des österreichischen Aero Clubs Nr. 37 vom 10.10.1911]. Nach verfügbaren Informationen war Lilly die 10. Frau weltweit mit einer Pilotenlizenz.) Danach war Lilly bis März 1914 als Pilotin bei der österreichischen Motor-Luftfahrzeug-Gesellschaft angestellt und nahm an zahlreichen Flugshows teil, bei denen sie mehr als 700 Passagiere sicher pilotierte. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges, in dem private Flüge nicht mehr möglich waren, beendete die Pilotinnenlaufbahn von Lilly. Laut Presseberichten (Neu.Wr. Journal 23.11.1916, S.11) diente sie während des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester an der Ostfront und lernte dort ihren Gatten Graf Johannes „Hansi“ Coudenhove-Kalergi kennen. (Eher wahrscheinlich ist, dass sich das Paar bereits im Juni 1914 noch vor Ausbruch des Weltkrieges beim 3. Internationalen Flugmeeting in Aspern kennenlernte, wo Lilly als Pilotin und Graf Hansi als Passagier bei einem waghalsigen Triple-Looping Manöver des Schweizers Edmond Audemars [aus der bekannten Uhrmacherdynastie] teilnahm).
Am 13.10.1913 ließ sich Lilly in Budapest taufen, trat also zum katholischen Glauben über. Ihr Taufnahme war Ilona Mária Magdolna. Am 27.7.1915 verehelichte sie sich in Wien mit Graf Johannes (Hansi) Coudenhove-Kalergi (seit 1918 von Ronspergheim) (1893-1965) (s. dessen Adams Portrait aus 1924, Querverweise). Die Ehe wurde wohl wegen Widerstands der Familie erst 1916 bekanntgegeben. (Dieser Widerstand war auf der bürgerlichen Herkunft von Lilly begründet. Antisemitismus spielte keine Rolle, da die Familie Coudenhove-Kalergi stark von Graf Johannes‘ Vater Dr. Heinrich C.K. (1859-1906) geprägt war, der 1901 die grundlegende wissenschaftliche Schrift „Das Wesen des Antisemitismus“ veröffentlicht hatte.) Das jungvermählte Paar nahm Wohnsitz auf Schloss Ronsperg (Ronšperk, heute wird der Ort Pobìžovice genannt), wo Lilly mit ihrem exzentrischen Gatten einen aristokratischen Lebensstil pflegte. Zahlreiche Reisen, auch zur Behandlung ihrer medizinischen Probleme (Operationen in Wien, Prag und Berlin), sowie zahlreiche Automobile (auch Autorennen, wie ein einwöchiges Langstreckenrennen quer durch die Tschechoslowakei im Juli 1921), die ihre neue Leidenschaft wurden, bedeutenden eher nur kurze Aufenthalte in Ronsperg. Lilly begann sich auch für Pferdezucht und Pferderennen zu interessieren und wurde Mitglied des elitären Jockeyclubs. Erst spät wurde am 22.6.1927 die einzige Tochter Maria Elekta (Thecla Elisabeth Christina Helena Sophia), genannt „Pixie“, geboren. Um die Erziehung von Pixie kümmerte sich Lilly eher wenig, diese übernahmen wie in aristokratischen Kreisen üblich Gouvernanten und bei Pixie auch die Nonnen des Ordens der Sorores Misericordiae Sancti Caroli Borromei (SMCB), die im Orte eine Schule betrieben, die 1936/37 mit Unterstützung der gräflichen Familie modernst erweitert wurde (und die im Hintergrund des Offner Portraits von Lilly dargestellt ist, s. Querverweise).
Als jüdische Konvertitin war Lilly seit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland 1933 in Gefahr. Die Sudetenkrise 1938, die zum Münchner Abkommen und der Einverleibung der Sudetendeutschen Gebiete (u.a. von Ronsperg) der Tschechoslowakei ins Deutsche Reich führte, war nur das Vorspiel der anschließenden Besetzung der Rest-Tschechoslowakei im März 1939 und der damit einhergehenden Verfolgung von politisch Andersdenkenden und von den Nazis als Nicht-Arier betrachteten Menschen. Die Familie dürfte eine solche Entwicklung befürchtet und Vorkehrungen getroffen haben. Lilly verließ Ronsperg im August 1938 und war in den folgenden Monaten auf Reisen (Plavec, 2013). 1939 gelangte sie über Ungarn nach Rom und fand Unterstützung durch katholische Kreise oder dem Vatikan (wohl über Beziehungen von Graf Hansi, der Mitglied des habsburgischen St. Georgs-Orden, einem weltlichen Ritterorden, war).
Während Lilly's Exil begann ein Kampf um den Schutz der Tochter Pixie, die bei ihrem Vater in Ronsperg verblieben war. Ziel der Bestrebungen von Graf Hansi war, Pixie als jüdischer Mischling 2. Grades erklären zu lassen, um sie so vor der Deportation zu bewahren. Zu diesem Zweck erfand er die Geschichte, dass Lilly angeblich eine illegitime Tochter des Grafen Heinrich Wenckheim (1857-1908) sei und dokumentierte entsprechende Zeugenaussagen von Familienfreunden (deshalb auch die Bezeichnung von Lilly als Steinschneider-Wenckheim in mehreren Quellen). Dies hätte Lilly zu einem Mischling 1. Grades und Pixie zu einem Mischling 2. Grades gemacht. Graf Hansi und auch seine Schwester Olga intervenierten ebenfalls beim japanischen Botschafter in Berlin (seine Mutter war bekanntermaßen die Japanerin Mitsuko Mitsu Coudenhove-Kalergi, geb. Aoyama 1874 – 1941), mit Bitte um Unterstützung. Pixie blieb zwar vor Deportation (und Ermordung) bewahrt, musste aber in der Landwirtschaft Zwangsarbeit leisten, ein Verfolgungsmuster, das sich nach 1945 (diesmal nicht als Jüdin, sondern als Deutschsprechende) bis zu ihrer Deportation/Ausreise nach Deutschland fortsetzte. Unter dem Druck der Gestapo erklärte Graf Hansi am 18.8.1943 die Trennung der Ehe, die aber erst 1960 einvernehmlich geschieden wurde.
Lilly überdauerte den Krieg in Rom und übersiedelte wohl nach 1950 nach Südfrankreich. Obwohl ihr Dasein in manchen Quellen als von Armut geprägt beschrieben wird, stellte sich nach ihrem Tode (1975 oder 1977) heraus, dass sie durchaus wohlhabend war (sie hinterließ ihrer Tochter mehrere Eigentumswohnungen, u.a. eine in Monte-Carlo, sowie wertvolle Juwelen), was wohl nur durch großzügige Zuwendungen aus Ronsperg zu erklären ist. Ebenso wie ihr Leben nach dem Weltkrieg ist auch ihr Tod geheimnisumwittert. Verschiedene Quellen geben als Lilly's Sterbeort alternativ Rom, Nizza, oder Genf und als Todesdatum alternativ den 28.3.1975 oder auch das Jahr 1977 an.
Tochter Pixie lebte nach ihrer Vertreibung aus der Tschechoslowakei in Deutschland u.a. auch bei ihrem Vater in Regensburg. Um 1950 emigrierte sie in die USA, wo sie sich Marina Caglieri nannte und 1967/68 amerikanische Staatsbürgerin wurde. Über ihre Herkunft behielt sie Stillschweigen. Erst nach ihrem Tode in Jahr 2000 fand sich in ihrem Nachlass als Erbe ihrer Mutter Lilly eine spektakuläre Peridot Juwelengarnitur von ca. 1820 aus Habsburg Besitz, die Erzherzogin Isabella 1916 bei der Krönung von Kaiser Karl zum König von Ungarn trug und von den Coudenhoves 1936 bei einer Auktion in Wien ersteigert wurde. Die Garnitur erzielte 2001 bei der Sotheby’s Versteigerung rund 400.000 $. Lillys bewegtes Leben als rassisch verfolgte Flugpionierin war zwar finanziell gut abgesichert, aber nichtsdestotrotz tragisch: 1938-1945 ein Leben im Exil und in Unsicherheit, danach das Zerbrechen der Familie mit Scheidung und Verlust des Kontakts mit ihrer Tochter durch deren Emigration. Lediglich ihre Portraits (s. Querverweise) verbleiben als Zeugnisse einer außergewöhnlichen Persönlichkeit und Lebensbiographie.
Das Adams Portrait aus 1924 war für die vom exzentrischen Grafen Hansi neuerrichtete Ahnengalerie auf Schloss Ronsberg bestimmt und ist sehr konventionell und weniger gelungen. Ausnahmsweise dürfte sich Adams in der Bildkomposition den Vorstellungen des Auftraggebers gefügt haben. Der gegenständliche Bildhintergrund ist dem Spätstil des Künstlers fremd und ist auch in Widerspruch zu seinem Malstil, in dem expressionistische Pinselstriche die Konturen verschwimmen lassen, und der sich lediglich in Lillys Gewand wiederfindet. Im Gegensatz dazu stellen das von Lino Vesco (1879-1935) ausgeführte Portrait aus 1922 (s. Querverweise) oder das Portrait von Lilly als Pilotin aus ca. 1938-1944 (basierend auf einem Photo aus 1912) von Alfred Offner (1879-1947), s. Querverweise, viel besser die unkonventionelle Persönlichkeit von Lilly dar. Graf Hansi war wohl mit dem Adams Portrait zufrieden, da er später Alfred Offner beauftragte, eine Kopie anzufertigen, die im Hintergrund das 1936/37 neuerbaute Nonnenkloster zeigt (Original verschollen, eine Reproduktion vom Titelblatt der letzten Nummer des Wiener Salonblatts vom 21.8.1938 hat sich aber erhalten, s. Querverweise).
Querverweise
Kopie des Adams Portraits von Alfred Offner mit geändertem Bildhintergrund
Lillys Portrait von Lino Vesco
Lilly als Pilotin, Portrait (vor und nach Restaurierung) von Alfred Offner
Ausgestellt
Literatur
Michal Plavec, 2013. Lilly Steinschneider. The First Hungarian Female Pilot of Jewish Origin. Judaica Bohemiae 1:55-78.
Provenienz
Bis 1945 bei der Dargestellten und ihrem Gatten, Schloss Ronsperg (Poběžovice CZ).
1945 verstaatlicht.
Zu unbekanntem Zeitpunkt auf Schloss Horšovský Týn (CZ) verbracht.
Horšovský Týn Inv.Nr.HT04915a.
