Leopold Bosel ca. 1924
Halbportrait en face, stehend, den Kopf nach links gewandt, in die Ferne blickend. Der Dargestellte mit kurzem schwarzen Haar mit angedeutetem Mittelscheitel sowie einen aufgezwirbelten Oberlippenbart, trägt einen schwarzen Anzug, weißes Hemd mit Vatermörderkragen sowie eine dunkelgrau gestreifte Krawatte mit einer Perlenkrawattennadel. Über den Anzug trägt er einen schwarzen Mantel, der vorne offen ist und mit seiner linken Hand, die in der Sakkotasche steckt, zurückgehalten wird. Hintergrund als stilisierte Landschaft mit niedrigem Horizont und Wolken in Braun-grau-Tönen gestaltet.
JQAW# P_1924_040
Öl auf Leinwand 65 x 54 oder 80 x 66 cm
Signatur: nicht dokumentiert
Unbekannter Privatbesitz USA.
Leopold Bosel 5.11.1886 Wien bis 1.1.1933 Wien, kleinbürgerlicher Handelsvertreter und Vater eines „armen Trillionärs“.
Die jüdische Familie Bosel wandert um 1850 aus Böhmen nach Wien ein, wo Leopold Bosel 1886 als zweitältestes von 9 Geschwistern geboren wurde. Wie viele Hunderttausende Zuwanderer lebte auch die Familie Bosel in der Hoffnung, in der Haupt- und Residenzstadt Wien ein besseres Auskommen sowie die Möglichkeit zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg zu finden. Nur wenigen gelang ein spektakulärer Aufstieg zu Vermögen und sozialer Anerkennung, wie es etwa dem Schwiegervater von Adams, Moritz Sobotka oder (wenn auch weniger nachhaltig) Leopold’s Sohn Sigmund Bosel (s. Exkurs der „arme Trillionär“) gelang. Die meisten Zuwanderer lebten auch in Wien in proletarischen oder bestenfalls kleinbürgerlichen Verhältnissen. Leopold lernte bereits als Jugendlicher die im gleichen Zinshaus lebende Julie Nossig (1868-1925), deren Familie aus Lemberg (Lviv, Ukraine) zugewandert war, kennen. Leopold und Julie heirateten am 18.10.1890 und hatten sechs Kinder. Als Handelsvertreter konnte Leopold seiner großen Familie lediglich eine „rechtschaffene kleinbürgerliche Existenz in Wien Brigittenau in der das Geld kaum reichte“ (Ransmayr 2016, S.31) bieten. Eine Selbstdarstellung mittels eines gemalten Portraits des führenden Portraitisten Wiens war undenkbar und unleistbar.
Erst durch den spektakulären wirtschaftlichen Aufstieg seines Sohnes Sigmund Bosel (s. Exkurs unten), der es von bescheidenen Anfängen zum Bankpräsidenten und Teilhaber an Hunderten Firmen brachte und in der Hyperinflationszeit als Kronen-Trillionär galt, kam es im Leben von Leopold Bosel zu einer dramatischen Wende. Durch Zuwendungen seines Sohnes konnten Leopold und Julie bürgerliche Wohnungen in Wien IX, Grundelstrasse (jetzt: Grundelgasse) 3 und in Wien VIII, Krotenthallergasse 8 und Leopold ab 1928 großbürgerliche Villen (XVIII, Colloredogasse 40, 1928-1930, sowie XIII, Hungerbergstrasse 13, 1930-1932) beziehen. Im Lehmann Adressbuch firmiert Leopold als „Privater“ bzw. sogar (1928-1930) als „Bankier“. Regelmäßige Kuraufenthalte in Bad Gleichenberg (vor 1914, wo sich die Familie bereits als gutbürgerliche Aufsteiger –die Söhne alle „cool“ mit Zigaretten- photographisch portraitieren ließ, s. Querverweise), Karlsbad (1918) sowie Bad Ischl (mehrmalige Aufenthalte in den 1920er-Jahren bis 1930, teils auch mit persönlichem Chauffeur) waren weitere Aspekte des neugewonnenen großbürgerlichen Lebensstils. Höhepunkt der Repräsentation ist das bei Adams wohl um 1923/24 von Leopold’s Sohn Sigmund in Auftrag gegebene Portrait seines Vaters Leopold, das sicherlich ein Vermögen gekostet hat (und wohl in der Hyperinflationszeit in ausländischer Währung wie Schweizer Franken bezahlt wurde, – so residierte Adams z.B. 1927 im noblen Dolder Grand Hotel in Zürich). In einem Steuerverfahren beziffert Sigmund Bosel 1936 die finanziellen Zuwendungen an seine Eltern mit insgesamt 264,000 Schilling (Salzburger Volksblatt 12.2.1936, S.8), was nach heutiger Kaufkraft mehr als 1 Million Euro entspricht. Allerdings brachte dieser neue Reichtum auch familiäre Spannungen mit sich. 1926 schaltete Leopold Bosel in einer Reihe von Tageszeitungen (Neue Freie Presse, Neues Wiener Journal, Der Tag, Ausgaben 23.6.1926) eine Erklärung, dass er für seinen Sohn Alfred Bosel keine Schulden zahlen werde und jedermann warne, diesem Darlehen oder Sachwerte auf Kredit zu gewähren. Gleichzeitig werde wegen Verschwendung ein Entmündigungsverfahren gegen seinen Sohn Alfred eingeleitet (das allerdings in keinen Akten dokumentiert ist, also wohl nie stattfand). 1925 verwitwet, lebte Leopold Bosel bis an sein Lebensende das Leben eines gut situierten Privatiers, zuletzt 1932 im großbürgerlichen Zinshaus in Wien I, Wallnerstrasse 2. Er stirbt am 1. Jänner 1933 an einer Lungenkrankheit (Bronchiektasie) und wird in einem pompösen neu-gotischen Oktagonal-Mausoleum am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt, das Sigmund Bosel im Zeitraum 1922-1925 errichten lies. (Das oft angeführte Errichtungsdatum 1899 des Mausoleums ist ein Missverständnis: die im Mausoleum ebenfalls bestatteten Söhne Leopolds Alexander und Max, die bereits 1899 und 1904 verstarben, wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt [zuletzt 1945] dort wiederbestattet. Leopold’s Frau Julie war 1925 die erste Bestattung im neuen Mausoleum.)
Das Portrait des Leopold Bosel ist künstlerisch konventionell (lediglich die konsequente Anwendung des Whistler Ton-in-Ton Prinzips sowie der Hintergrund verweisen auf den typischen Adams Stil seiner Spätphase) ist jedoch historisch interessant. Es ist das einzige Portrait, abgesehen von seinen holländischen Milieustudien, das Adams von einer Person außerhalb des vermögenden Großbürgertums oder der Aristokratie verfertigt hat. Der Auftraggeber Sigmund Bosel, der Sohn des Portraitierten wollte offensichtlich durch das Adams Portrait seine Familie als „angekommen“ darstellen und stellte das Portrait auch dementsprechen in seinen Büroräumen zur Schau. Diese Strategie der Selbstinszenierung hat durchaus funktioniert, weil das Portrait umgehend in der Presse rezipiert und dort als „Portrait des Vaters des Präsidenten Bosel“ unter erlauchter Gesellschaft anderer Portraitierten aus der Hocharistokratie hervorgehoben wurde (Hans Böhm, Die Bühne 1925 14:24-25). Es ist bemerkenswert, dass Sigmund Bosel lediglich seinen Vater durch Adams portraitieren ließ, er selbst ließ sich mehrmals von Alexander Dobrinow (1898-1958) portraitieren (alle Werke verschollen) sowie seine Geliebte Gertrud Reinhardt von Julius Schmid (1854-1935), eine Kohlezeichnung, die sich als Reproduktion erhalten hat. (Ebenso bemerkenswert ist, daß Sigmund Bosel seine Lebensgefährtin und Mutter seiner zwei Kinder, Ilka Schulz nicht portraitieren ließ). Adams Portraits galten in Wien als Statussymbol und als soziales Distinktionsmerkmal (auch durch die stolzen Preise, die Adams verlangen konnte), was im vorliegenden Fall durch Sigmund Bosel bewusst zur Selbstdarstellung seiner Familie benutzt wurde. Das Bild verblieb bei Sigmund Bosel bis ca. 1938. Danach wurde es wohl von (arischen) Freunden oder getreuen ehemaligen Mitarbeitern verwahrt und nach 1945 an Sigmunds Tochter Julie Bosel-Bauer-Marks (1927-2016) übergeben, die die Nazizeit im Exil in England überlebte und danach nach New York übersiedelte. Julie Marks starb kinderlos. Das Portrait ging im Erbgang an die Nachfahren ihres Onkels Robert Bossel (der den Namen Bosel durch das Doppel-s verfremdete, um den Nazis durch Flucht in die USA zu entkommen). Der gegenwärtige Standort des Portraits in den USA ist unbekannt.
Exkurs: Aufstieg, Fall und tragisches Ende des „armen Trillionärs“ Sigmund Bosel
Sigmund Bosel wurde am 10.1.1893 als Sohn des Leopold und der Julie (geb. Nossig) Bosel in Wien geboren. Nach Besuch der Volks- und Realschule sowie ein Jahr Handelsschule beginnt er 1908 als Textilkaufmann zu arbeiten und macht sich im Februar 1914 mit Gründung eines Textilhandels selbstständig. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges bricht eine große Flüchtlingswelle aus den Gebieten der Ostfront aus, die in Flüchtlingslagern untergebracht und versorgt werden müssen. Sigmund Bosel avanciert mit unternehmerischem Geschick (und wohl auch Schlitzohrigkeit beim „Organisieren“ knapper Ware) bald zum Großlieferanten der Behörden zur Versorgung dieser Flüchtlingslager. Er wird auch mit der Versorgung der Wiener Polizei mit immer knapper werdenden Nahrungsmitteln und Kleidung beauftragt, was er hervorragend meistert und damit die Grundlage zu seinen exzellenten Beziehungen mit dem Polizeipräsidenten und späteren Minister und Bundeskanzler Johann Schober (1874-1932) legt. Bei Kriegsende hat er bereits ein ansehnliches Vermögen, das er in der anschließenden Hyperinflationszeit durch gewitzte (auch waghalsige) Finanztransaktionen unter dem Motto „kaufe heute - zahle später“) enorm vermehrt und zum Inbegriff (ebenso wie Camillo Castiglione 1879-1957, s. das Adams Portrait von dessen Gattin Iphigenie aus 1929 in den Querverweisen) des sowohl bewunderten als auch antisemitisch verfemten Finanzspekulanten wird. 1923 übernimmt Sigmund Bosel die Aktienmehrheit an der Unionsbank (im Übernahmekmpf mischt auch Camillo Castiglione mit, der sich jedoch letztendlich mit Bosel arrangiert und ihm sein Aktienpaket verkauft) und avanciert somit zum (Bank)-Präsidenten Bosel. Eine Zeitung (Berliner Zeitung am Mittag 24.1.1923) bezeichnet ihn als (Kronen) Trillionär, was Bosel eher belustig zur Kenntnis nimmt, aber den Artikel zwecks Propaganda (u.a. an Johann Schober) weiterleitet. Neben der Unionsbank hält Sigmund Bosel auch zahlreiche Firmenbeteiligungen und Aktienpakete (über 200 Beteiligungen) und investiert auch in Realitäten, Kunst und Juwelen.
So rasch Bosels Stern am Finanzhimmel gestiegen ist, so rasch beginnt er jedoch auch zu sinken. Devisenspekulationsgeschäfte (gegen den französischen Franc), die Bosel über die Unionsbank und auch im Auftrag der staatlichen Postsparkasse (die selbst auch illegalerweise Devisenspekulation gegen den Franc betreibt), führen zu erheblichen Verlusten. Er gerät zusehends ins Kreuzfeuer der Kritik sowohl von Seiten der Sozialisten als auch der NSDAP (die sich seiner nach dem Anschluss 1938 erinnern und „annehmen“ wird). Die enormen Verluste von Bosel aber auch die noch größeren der Postsparkasse werden publik und führen zu einer Regierungskrise, Finanzminister Ahrens tritt zurück und flüchtet nach Kuba. Die Postsparkasse wird mit staatlichen Mitteln saniert, da „too big to fail“. (Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten sind also keineswegs Erfindungen der Gegenwart.) Bosel muss 1926 als Präsident der Unionsbank zurücktreten und wird in den folgenden Jahren als Sündenbock von der Postsparkasse in einer Reihe von Prozessen, wo er teilweise auch in Haft war, eingedeckt. Von seinem Vermögen bleiben nur eher spärliche Reste (Bosel selbst schätzt es auf rund eine Million US Dollar, nach heutigem Geld mindestens rund 20 Millionen $), aber seine weiterhin guten politischen Beziehungen eröffnen ihm eine neue Tätigkeit: im Auftrag der Rothschilds (und mit deren finanziellen Mitteln) fungiert er als Mittelsmann zur illegalen Parteienfinanzierung über das gesamte politische Spektrum (u.a. auch der Parteipresse der NSDAP). Der Krach der größten österreichischen Bank, der Creditanstalt, die 40% der heimischen Industrie kontrollierte, im Jahre 1931, bei dem das Haus Rothschild beträchtlich verliert und bei der Sanierung auf politisches Wohlwollen angewiesen ist, weist Bosel diese neue zwielichtige Aufgabe zu. (Die Sanierung der Creditanstalt erfolgte großteils durch öffentliche Mittel, die bis Mitte der 1930er-Jahre insgesamt rund 1 Milliarde Schilling - rund 50% des eines jährlichen Staatshaushaltes- verschlang und das in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit in Folge der Großen Depression. Die Finanzkrisen und die Korruption des politischen Systems führte letztendlich zum Bürgerkrieg 1934 und der Ausschaltung der Demokratie sowie zum Anschluss 1938, d.h. der Annexion, Österreichs an/durch Nazi-Deutschland.)
1937 überlegt Bosel nach Paris zu übersiedeln und wirtschaftlich neu anzufangen. Anfang 1938 reist er auch mit seiner Lebensgefährtin Ilka Schulz nach Paris, kehrt aber trotz Warnungen im März 1938 nach Wien zurück. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland am 13.3.1938 sitzt Sigmund Bosel in der Falle. Er wird von der GESTAPO verhaftet und verbringt die Zeit im Gefängnis und nach Ausbruch einer schweren Krankheit unter Aufsicht im Rothschild-Spital und später im jüdischen Altersheim. Im Februar wird Sigmund Bosel vom später als Kriegsverbrecher verurteilten Alois Brunner per Trage zu einem Deportationszug nach Riga gebracht und im Zug am 7.2.1942 von ihm gefoltert und dann erschossen. Auch Sigmunds Schwester Else, sein Bruder Alfred sowie dessen Tochter Marlene werden Opfer der Shoah.
Quellen:
Georg Ransmayr, Der arme Trillionär – Aufstieg und Untergang des Inflationskönigs Sigmund Bosel, Styria, 2016, 319 pp.
Roman Sandgruber, Rothschild, Glanz und Untergang des Wiener Welthauses, Molden, 2018, 528 pp.
Lehmann’s Adressregister: https://www.digital.wienbibliothek.at/periodical/structure/5311
Anno Zeitungsarchiv Österreichische Nationalbibliothek: https://anno.onb.ac.at/
Ausgestellt
Literatur
Georg Ransmayr, Der arme Trillionär – Aufstieg und Untergang des Inflationskönigs Sigmund Bosel, Styria, 2016, 319 pp.
Provenienz
Sigmund Bosel (Sohn) bis nach 1938.
Unbekannt.
Nach 1945 bis 2016 Julie Bauer-Marks, geb. Bosel (Enkeltochter), New York.
Ihre Rechtsnachfolger nach Robert Bossel,
unbekannter Privatbesitz USA.